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Warum Verzicht so schwer fällt - Und warum weniger mehr sein kann

22:27
 
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Verzich klingt nach Entsagung und Verlust. Wem die Überzeugung fehlt, dass sich Nein-Sagen lohnen kann, tut sich schwer. Deshalb finden Aufrufe zu nachhaltigeren, sparsamen Lebensstilen so wenig Resonanz. Von Justina Schreiber

Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprach: Katja Amberger
Technik: Christiane Gerhäuser-Kamp
Redaktion: Susanne Poelchau

Im Interview:
Prof. Dr. Dr. Ingo Balderjahn, Betriebswirtschaftswissenschaftler + Konsumforscher,
Angela Mauss-Hanke, Psychoanalytikerin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

Meine Challenge

Kann ich ohne Schlaf überleben? Wie überwinde ich meine Höhenangst? Und wie viel Nazi steckt in mir? Spannende Fragen, aber wer hat schon Lust, all das selbst auszuprobieren? – Kein Problem, denn Reporterin Daniela Schmidt stellt sich alle zwei Wochen einer neuen Herausforderung und nimmt euch mit, wenn Wissenschaft ihr Leben zum Abenteuer macht!

Literatur:

Ingo Balderjahn: Lust auf Verzicht, gekom Verlag 2024

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHERIN:

Nur eine Mahlzeit am Tag, und die darf kein Fleisch, keine Milchprodukte und keine Eier enthalten. Ganz schön karg! Doch die Mönche des Mittelalters kannten ihre Tricks, um die strengen Fastengebote vor Ostern zu umgehen. Sie ließen sich Fische, Biber, Truthähne und anderes Geflügel umso reichlicher schmecken. Mit der Begründung: laut Schöpfungsbericht hätte Gott die Fische und Vögel nicht am selben Tag erschaffen wie „die Tiere auf dem Lande“, die klassischen Bratenlieferanten Schwein oder Rind, die ja wohl mit dem Begriff „Fleisch“ gemeint waren. Man kann die listigen Klosterbrüder schon verstehen. Verzichten „zu müssen“ fällt dem Menschen einfach schwer, sagt der Konsumforscher Ingo Balderjahn.

O-TON 01: (Balderjahn)

„Der Mensch verzichtet nicht gerne. Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften von 2002, das ist der Daniel Kahneman, der hat das sehr gut herausgearbeitet. Seine Theorie heißt „prospect Theory“, dass das Wesen des Menschen schon ist, dass der Mensch eine Verlustaversion hat. Das stellt sich in Studien sehr stark da. Also Verluste sollen vermieden werden, auf die Zukunft hingeschoben werden, Verluste schmerzen und führen zu emotionaler Betroffenheit.“

MUSIK Opposing forces M00537747 101 0.47

SPRECHERIN:

Abzuspecken und etwas Wohlstand aufzugeben, wird logischerweise als Einschränkung empfunden. Man stellt sein Konsumverhalten deshalb auch nicht ständig in Frage. Schließlich trinken andere Leute ebenfalls Alkohol, obwohl er als ungesund gilt, oder machen Kreuzfahrten, obwohl man sie aus Umweltgründen vielleicht besser sein lassen sollte. So tickt der Mensch. Er vergleicht und hat insgeheim Angst, meint Ingo Balderjahn. Angst, etwas her- oder aufgeben zu müssen. Zu kurz zu kommen, drauf zu zahlen.

O-TON 02: (Balderjahn)

„Man möchte auf Deubel-komm-heraus den Wohlstand und den jetzigen Status, oftmals sind ja auch andere Dinge damit verbunden, Macht und Ansehen. Oder das Schlimmste ist ja, was Menschen sich vorstellen können, sozial abzusteigen.

O-TON 02: (Balderjahn)

Sie müssen, was weiß ich, ihren Ferrari da vor der Tür wieder verkaufen oder so was, das geht ganz emotional an die Substanz.“

SPRECHERIN:

Auch wenn es „nur“ um materielle Dinge geht. Aber was heißt „nur“? Für die mittelalterlichen Mönche waren die strengen Fastengebote oft eine weitere Zumutung im harten Kampf ums Überleben, wenn Ernten ausfielen oder Krieg herrschte. Die Angst vor dem leeren Teller, die Angst vor dem Nichts hat schlicht biologische Ursachen. Nur so lässt sich der fast schon reflexhafte Widerstand erklären, etwa wenn einem von der Politik „jetzt auch noch“ die freie Fahrt auf Autobahnen genommen werden soll. Bloß nicht darben, bloß nicht verzichten müssen. Der Kampf gegen aufgezwungene Askese geht bereits mit der Geburt los, sagt die Psychoanalytikerin Angela (Anschela) Mauss-Hanke:

MUSIK Unfolding feelings Z9356382 032 0.32

O-TON 03: (Mauss-Hanke)

„Im Mutterleib geht ja alles von selber. Es gibt auch noch keine Bedürfnisse nach irgendetwas, weil das Atmen, das Essen ist einfach ein Ineinander, was von selber funktioniert. So, und dann flutschen wir da durch und kommen auf die Welt. Und warum finden wir es normal, dass jedes Baby schreit, wenn es auf die Welt kommt? Weil: es ist zum Schreien. Nix ist mehr von selber.

MUSIK Frames of motion Z93582 002 0.37

O-TON 03: (Mauss-Hanke)

Ne, es muss plötzlich aktiv atmen. Das Essen ist nicht immer von selber da, und von Anfang an ist eigentlich das Leben eine Übung im Verzicht darauf, dass Bedürfnisse sofort und unmittelbar befriedigt werden. Und das ist ein ganz langwieriger Lernprozess.“

SPRECHERIN:

Erwachsen zu werden, bedeutet aus psychoanalytischer Sicht: das innere Lustprinzip, das alle Wünsche erfüllt haben will, und zwar flott, mit dem äußeren Realitätsprinzip in Einklang zu bringen. Denn die totale Bedürfnisbefriedigung ist auf Erden leider unmöglich. Man kann selbstverständlich trotzdem Größenfantasien und Anspruchsdenken pflegen - nach dem Motto: „Es muss für mich Kaffee aus dem Vollautomaten sein. Sonst ist die Laune im Eimer.“ Aber wir kommen als mehr oder weniger soziale Wesen nicht umhin, laufend ureigene Triebe, Wünsche und Ziele aufzuschieben, umzulenken oder zu ignorieren. Sonst gäbe es nur noch Hauen und Stechen und das Wehklagen wäre groß. Je nach Erziehung, Persönlichkeit und Einflüssen gelingt die notwendige Selbstregulation mal besser, mal schlechter.

MUSIK Unfolding feelings Z9356382 032 0.18

O-TON 04: (Mauss-Hanke)

„Gehen wir noch mal ganz zurück. Das Baby hat Hunger und schreit, das weiß noch nicht, ich werde nicht sterben, wenn ich jetzt eine Minute warte oder 5 Minuten. Das muss es wirklich durch Erfahrung lernen und je befriedigender oder je unproblematischer, unkomplizierter die Erfahrungen sind, desto leichter lässt sich das auch lernen. Je mehr ich mich darauf verlassen kann, naja, ich muss ein bisschen Geduld haben. Und dann kommt das schon. Dann kann ich auch besser Geduld haben. Wenn es aber unsicher ist, wenn ich nicht weiß: oh, kriege ich jetzt was, kriege ich nix. Wie lange muss ich warten? In so einer unsicheren Bindung, dann wird es auch schwer zu verzichten.“ (oben)

MUSIK Sunnylands Z8034859 109 0.33

SPRECHERIN:

Der amerikanische Psychologe Walter Mischel (Betonung auf der zweiten Silbe) führte von 1968 bis 74 an der Stanford University ein Experiment durch, das unter dem Namen Marshmallow-Test berühmt und seither vielfach (auch mit Tieren) wiederholt wurde. Vierjährige Kinder wurden damals vor die Wahl gestellt: sie könnten sofort ein Marshmallow essen. Wenn sie es jedoch schafften, eine Weile zu warten, bekämen sie ein weiteres süßes Schaumstück dazu.

O-TON 05: The Marshmallow Test (youtube.com) bei 0:26

Kurz frei, dann drunter:

MUSIK Sunnylands Z8034859 109 0.44

SPRECHERIN:

Videoaufnahmen, die auch im Internet zu finden sind, zeigen, wie die Jungen und Mädchen mit sich ringen und zum Teil den Kampf um ihre Selbstbeherrschung verlieren. Über Jahre hinweg überprüfte Walter Mischel, wie sich die Kinder, die Standhaften und die Verführbaren, jeweils kognitiv und sozial weiterentwickelten. Sein Ergebnis: Kinder, die warten konnten beziehungsweise darauf vertrauten, dass sie die versprochene Belohnung erhalten werden, zeigten später auch beim Lernen oder in anderen Stresssituation mehr Frustrationstoleranz als die, die fast schon reflexhaft nach dem Marshmallow griffen. Das wirkt einleuchtend. Doch Wünsche aufzuschieben ist letztlich leichter als sie komplett aufzugeben. Was zum Beispiel beim Thema Umweltschutz eigentlich viel öfter angezeigt wäre, meint der Konsumforscher Ingo Balderjahn. Etwa ein konsequentes Nein zum neuesten Elektronikteil. Denn:

O-TON 06: (Balderjahn)

„Ob ich mir jetzt nun ein Smartphone kaufe oder in einer Woche, ist dem Klima höchstwahrscheinlich egal.“

SPRECHERIN:

Aber wirklich ganz darauf verzichten ohne irgendeine Belohnung? Schwierig. Religionen vertrösten ihre Gläubigen ja gern auf ein Paradies im Jenseits, in das sie eintreten werden, wenn sie sich an alle Regeln halten. Aber nehmen wir einmal an, jemand entscheidet sich, aus Umweltgründen auf den Flug nach Thailand oder die Autofahrt in die Provence zu verzichten, und reist stattdessen mit der Bahn ans andere Ende Deutschlands. In überfüllten, verspäteten Zügen unterwegs zu sein, ist kein Vergnügen. Wie sieht hier – bitte schön - die Gratifikation aus?

O-TON 07: (Balderjahn)

„Das Gute, was man tun kann, um den Klimawandel zu verhindern, kommt ja auch später, in zehn, 20, 30 Jahren.“

SPRECHERIN:

Aber wer weiß das schon so genau! Prognosen sind keine Versprechen.

MUSIK Jolly Stroll Z8036179 120 0.44

SPRECHERIN:

Der Begriff des Verzichts stammt aus der mittelalterlichen Rechtssprache. Wer einen Rechtsanspruch aufgab, übte Verzicht oder Verzeihung, wie man noch bis ins 18. Jahrhundert gleichbedeutend sagen konnte. Man entsagte oder verzichtete, um eine Schuld auszugleichen und die gegnerische Partei zufrieden zu stellen. Deshalb liegt bis heute das „Um zu“ so nahe. Man verzichtet auf Kohlehydrate oder Fett, um abzunehmen. Man spart Geld, um den Kindern etwas schenken zu können. Man verzichtet auf einen Seitensprung, um die Ehe nicht zu gefährden. Wenn sich nun aber kein einleuchtender Grund fürs Knapsen, keine „gefühlte“ Not-Wendigkeit finden lässt? Dann kauft man sich eben zweimal im Jahr neue Klamotten oder gönnt sich den One-Night-Stand. Verzicht braucht schon ein gewisses Maß an innerer Zustimmung, bestätigt die Psychologin Angela Mauss-Hanke. Sonst funktioniert der Deal nicht gut:

O-TON 08: (Mauss-Hanke)

„Wenn ich von außen gesagt bekomme: du, das wäre für uns alle besser, wenn du darauf verzichtet. Und ich denke darüber nach, also meine Vernunft, vielleicht auch sogar mein Einfühlungsvermögen sieht das dann ein, dass das besser wäre. Und ich bin dann vielleicht sogar ein sozialer Mensch, der es auch nicht unwichtig findet, dass es den anderen auch gut geht, dann fällt mir der Verzicht natürlich viel leichter, als wenn das Wichtigste ist, dass ich meine Wünsche, meine Triebe befriedigt kriege.“

MUSIK Frames of motion 2 Z9356382 002 0.42

O-TON 09: (Balderjahn)

„Was braucht es für einen Verzicht? Verantwortung, Verantwortung übernehmen. Der Mensch muss sagen: okay, ich bin auch daran beteiligt, dass sich die Erde aufheizt, also nur mal gesagt: mit jedem Euro, den wir ausgeben, circa 150 Gramm Treibhausgase, also wir sind alle daran beteiligt. Und wenn der Einzelne für sich auch die Verantwortung sieht, ich bin verantwortlich dafür, dann kann sich daraus schon eine Bereitschaft ergeben, etwas auch zum Klimaschutz zu tun. Nur, in einer Studie der Europäischen Union, Eurobarometer heißt das, da sagen zwei Drittel der Europäer, sie fühlen sich für den Klimaschutz nicht verantwortlich, und diese zwei Drittel fallen mit dieser Haltung erstmal komplett raus. Die machen nichts.“

SPRECHERIN:

Niemand hat gern ein schlechtes Gewissen. Auch wenn Menschen mittlerweile so etwas wie Flugscham empfinden können, geflogen wird trotzdem in gigantischem Ausmaß. Ein weiterer Feind des Verzichts ist nämlich die Bequemlichkeit. Verzicht zu üben, bedeutet, eine Komfortzone zu verlassen. Wer sein Gewicht reduzieren will, muss die Ernährung umstellen und auf die gewohnte abendliche Wurstplatte verzichten. Man muss sich aufraffen und dann vor allem dranbleiben. Der Wille ist gefragt. Und der Wille braucht gute Argumente. Sonst fällt er dem inneren Schweinehund zum Opfer. Selbstoptimierung kann ein starkes Motiv sein: ach ja, besser aussehen, gesünder sein! Dafür darbt man noch relativ gern.

O-TON 10: (Mauss-Hanke)

„Aber der Verzicht, sagen wir mal, auf Flugreisen eben zu verzichten, weil mir der Klimawandel bewusst ist, dass es eine viel schwierigere Forderung und das braucht schon wirklich viel Vernunft, viel abstraktes Einfühlungsvermögen in die nächste Generation. Und vor allen Dingen auch die Erkenntnis oder die Meinung kann man ja auch sagen, dass das was nutzen kann, wenn ich als Einzelner da etwas anders mache. Und das ist auch verständlich. Wenn ich in eine Millionenstadt komme, dann frage ich mich auch: warum soll ich hier irgendwie den Müll trennen und das dann trotzdem durchzuhalten, das braucht wirklich viel Vernunft, auch gedankliche Geduld vielleicht. Und da muss man dann eben sehen, wie kann man das für sich selber aufrechnen, dass man dann verzichtet.“

SPRECHERIN:

Die Regale in unseren Supermärkten sind voll. Lieferdienste bringen Waren bis an die Haustür. Vom USB-Stick bis zum Plantschbecken, von der Pizza bis zum Modeschmuck – fast alles kann man heute ruckzuck im Internet bestellen.

MUSIK All in one app Z8033488 114 1.15

SPRECHERIN

Die Versuchungen sind groß. Wir leben in einer Überflussgesellschaft. Immer noch. Außer es gibt Probleme mit den Lieferketten, und das Klopapier wird rationiert. Dann bricht Panik aus. Normalität bedeutet hierzulande, dass alles immer verfügbar ist, jetzt auch in Bio-Qualität.

O-TON 11: (Balderjahn)

„Es ist natürlich das, dass insbesondere von der Wirtschaft, von der Werbewirtschaft, vom Marketing Anreize gesetzt werden für bestimmte konsumintensive Verhaltensweisen. Und da sich kein Mensch von der Werbung wirklich entziehen kann, Werbung hat immer Wirkung. Wir brauchen nur einmal eine Marke zu sehen, und schon kriegen wir die aus dem Gehirn nicht mehr gelöscht. Also, da sind so Antreiber, Konsumantreiber. Und wir werden ja auch groß in einer Gesellschaft und leben in einer Gesellschaft, jetzt sage ich mal hier in Deutschland, die sehr, sehr konsumorientiert ist.“

SPRECHERIN:

Anregende Reize aus unzähligen Kanälen triggern den suchtmäßigen Konsum. Der Staat versucht durchaus, mit Kampagnen, Gebühren und Werbeverboten gegenzusteuern. Im Grunde aber bleibt es jedem und jeder Einzelnen überlassen, dem kapitalistischen Prinzip des „Höher, weiter, schneller, mehr!“ die Stirn bieten. Aber nur 15 Prozent der Deutschen schaffen es, konsequent weniger Geld für ihren Konsum auszugeben, als sie könnten, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Ingo Balderjahn. Von anderen Ländern gar nicht zu reden.

O-TON 12: (Balderjahn)

„Wir konsumieren tatsächlich viel zu viel. Wir ruinieren die Erde, da gibt es Zahlen. Wir verbrauchen die Fläche von 1,7 Erden, damit wir unsere Konsumbedürfnisse befriedigen können, aber diese Komma sieben, diese drei Viertel, die haben wir nicht. Das heißt, wir plündern, und wir heizen auch mit diesem maßlosen Konsum das Klima auf. Und das ist das Problem, wovor wir stehen.“

SPRECHERIN:

Die große Frage lautet: Wie lässt sich der Mensch zum Verzichten und Sparen motivieren? Wie lässt sich der maßlose Konsum reduzieren? Darauf läuft es ja hinaus. Trotz neuer energieeffizienter Technologien und nachhaltigerer Produktionsweisen. Was zu viel ist, ist zu viel. Die apokalyptischen Bilder aus aller Welt sprechen eine deutliche Sprache:

MUSIK Geiger involved Z8024281 104 0.42

SPRECHERIN

Sturzfluten, Bergrutsche, schmelzende Gletscher, Wirbelstürme, brennende Wälder...

O-TON 13: (Greta Thunberg W0507488 101)

„We should panic!... out of our comfort zones!“

OT 13 kurz frei, dann drüber:

SPRECHERIN:

„We should panic!“ und „I want you to panic“, sagte die Fridays-for-Future-Aktivistin Greta Thunberg immer wieder in ihren Reden und erntete dafür Kritik. Panikmache bringt nämlich gar nichts, um die Menschen zum Umdenken zu bewegen. Im Gegenteil.

O-TON 14: (Balderjahn)

„Man sollte nie, und das machen viele Umweltaktivisten falsch, nie den Horror an die Wand malen. Horror mögen Menschen nicht und sortieren das gleich aus. Damit setzen sie sich nicht auseinander. Deswegen funktionieren ja auch diese Horrorbilder auf diesen Zigarettenpackungen nicht mehr.“

SPRECHERIN:

Man gewöhnt sich an den Schrecken. Oder steckt den Kopf in den Sand. Wird schon nicht so schlimm sein. Auch wenn das Meer so warm ist wie noch nie und die Korallenriffe sterben. Hauptsache Urlaub. Die moderne Lebensweise erschöpft auch die emotionalen Ressourcen. Jedem und jeder scheint hier alles immer offenzustehen: die persönliche Selbstverwirklichung, der Neuanfang mit 80, dieses haben, jenes machen oder werden zu können. Das kann stressen.

MUSIK Sunnylands Quintett Z8034859 110 0.38

SPRECHERIN:

Die Entwicklung liegt nahe: Zum Wellnesskurzurlaub gehört heute meist auch „digital detox“, der vorübergehende Verzicht auf digitale Medien und Endgeräte. Individuelle kleine Verzichtsübungen sind „in“, kleine Rettungs- oder Heilungsversuche, private Challenges, deren Verlauf gern in sozialen Netzwerken gepostet wird: Wie lange schaffe ich es, ohne Zucker, Weizen, Ablenkung, weiß nicht was, zu leben? Und ganz wichtig: wie fühle ich mich dabei? Eigentlich gar nicht so schlecht. Überraschenderweise. Studien, die Ingo Balderjahn an der Uni Potsdam durchgeführt hat, brachten ähnliche Ergebnisse:

O-TON 15: (Balderjahn)

„Wir haben Personen verglichen, die freiwillig verzichten und einen einfacheren Konsum und Lebensstil haben, mit anderen, die voll drauflos konsumieren. Und wir stellen fest: die, die freiwillig verzichten, die empfinden das nicht als Opfer oder als Verlust, sondern eher als Zugewinn an Unabhängigkeit und an Selbstbestimmung, Autonomie, also in der Tendenz sogar stellt sich heraus, dass Menschen, die einfacher leben, nicht alles auf den Kopf hauen, glücklicher sind als die anderen, die in diesem Konsumturbo stecken.“

SPRECHERIN:

Das Gefühl von Selbstdisziplin und Selbstwirksamkeit, nicht so getrieben und abhängig zu sein, tut offenbar gut. 70 Prozent der Deutschen wären – laut einer Studie des Bonner Briq-Instituts - rein theoretisch sogar dazu bereit, grundsätzlich kürzer zu treten, ihre Altgeräte zum Recyceln zu bringen, Kleidung second hand zu kaufen, öfters das Fahrrad zu benutzen und so weiter. Doch rechnen sie paradoxerweise nicht damit, dass sich ihre Mitmenschen auch dazu bewegen ließen. Also wagen sie sich nicht aus der Deckung. Wenn aber alle mitmachen würden, dann wäre etwa der Verzicht auf Fleisch oder Flüge „normal“. Gruppendruck und soziale Kontrolle spielen eine Riesenrolle, bestätigt die Psychoanalytikerin Angela Mauss-Hanke.

O-TON 16: (Mauss-Hanke)

„In großen Gruppen ist das ja häufig so, in Sekten zum Beispiel, es gibt ne Ideologie: wir sollten das und das tun oder was weiß ich, vegan leben. Und dann hilft es natürlich sehr, wenn man dann eine Ideologie hat, an die sich alle halten. Das heißt, da gibt der Einzelne seinen Moralkodex ab an das, was in der Gruppe sozusagen „in“ ist, und hält sich dann daran.

MUSIK All in one app Z8033488 114 0.55

O-TON 16: (Mauss-Hanke)

Ne, da muss ich nicht mehr überlegen, finde ich das richtig oder falsch, sondern ich tue das einfach und der Gewinn, die Zustimmung durch die Gruppe, das ist schon nicht zu unterschätzen.“

SPRECHERIN:

Alkoholfreie Getränke liegen heute voll im Trend. Aber autoritär von oben lässt sich ein generelles Bier- und Wein-Trink-Verbot in unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft kaum durchsetzen. Anders gesagt: der Zeitgeist müsste sich ändern, weg vom materiellen Denken hin zu einer besseren Moral und mehr sozialem Denken. Ohne Zwang. Der Konsumforscher Ingo Balderjahn hat 2024 ein Sachbuch mit dem Titel „Lust auf Verzicht“ veröffentlicht, um die wissenschaftlich belegten positiven Seiten der freiwilligen Beschränkung publik zu machen. Nach dem Motto: „Weniger ist tatsächlich mehr“.

O-TON 17: (Balderjahn)

„Da gibt es Parallelstudien, die von anderen Kolleginnen und Kollegen betrieben werden, die zeigen, dass je mehr Geld jemand hat, desto relativ weniger spendet er oder sie für gute Zwecke. Daraus ist es auch erkennbar: die Leute, die relativ wenig haben, spenden in Relation dazu zu dem, was sie haben, relativ viel und sind auch viel leichter bereit, etwas abzugeben mit anderen zu teilen.“

MUSIK Jolly stroll Z8036179 120 1.14

SPRECHERIN:

Genug zum Leben zu haben, ist wichtig. Aber die Frage: brauche ich das wirklich? verneinen zu können, schafft offenbar Freiräume und reduziert Ohnmachtsgefühle. Warum nicht auch mal einen Probelauf starten, um einen klitzekleinen Beitrag zur Rettung der Welt zu leisten? Wenn irgendein Verzicht dann doch ein bisschen hart erscheint, kann man sich ja zum Trost die Bedingungen der menschlichen Existenz vor Augen halten. Verzicht zu üben, gehört nicht ohne Grund zum Standardprogramm aller Religionen. Wer sich bewusst auf wesentlich Erscheinendes konzentriert, lernt nämlich Abschied zu nehmen. Vielleicht auch von den Illusionen, die unsere Gesellschaft so gerne pflegt:

O-TON 18: (Mauss-Hanke)

„Das Leben ist immer ein Verzicht. Wir gehen auf den Tod zu, und wir müssen diese begrenzte Zeit irgendwie füllen. Wir werden niemals all das, was wir gerne tun würden, all das, was wir gerne hätten, erreichen, niemals. Wir kommen aus dem Verzichten nicht raus.“


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Verzich klingt nach Entsagung und Verlust. Wem die Überzeugung fehlt, dass sich Nein-Sagen lohnen kann, tut sich schwer. Deshalb finden Aufrufe zu nachhaltigeren, sparsamen Lebensstilen so wenig Resonanz. Von Justina Schreiber

Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprach: Katja Amberger
Technik: Christiane Gerhäuser-Kamp
Redaktion: Susanne Poelchau

Im Interview:
Prof. Dr. Dr. Ingo Balderjahn, Betriebswirtschaftswissenschaftler + Konsumforscher,
Angela Mauss-Hanke, Psychoanalytikerin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

Meine Challenge

Kann ich ohne Schlaf überleben? Wie überwinde ich meine Höhenangst? Und wie viel Nazi steckt in mir? Spannende Fragen, aber wer hat schon Lust, all das selbst auszuprobieren? – Kein Problem, denn Reporterin Daniela Schmidt stellt sich alle zwei Wochen einer neuen Herausforderung und nimmt euch mit, wenn Wissenschaft ihr Leben zum Abenteuer macht!

Literatur:

Ingo Balderjahn: Lust auf Verzicht, gekom Verlag 2024

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SPRECHERIN:

Nur eine Mahlzeit am Tag, und die darf kein Fleisch, keine Milchprodukte und keine Eier enthalten. Ganz schön karg! Doch die Mönche des Mittelalters kannten ihre Tricks, um die strengen Fastengebote vor Ostern zu umgehen. Sie ließen sich Fische, Biber, Truthähne und anderes Geflügel umso reichlicher schmecken. Mit der Begründung: laut Schöpfungsbericht hätte Gott die Fische und Vögel nicht am selben Tag erschaffen wie „die Tiere auf dem Lande“, die klassischen Bratenlieferanten Schwein oder Rind, die ja wohl mit dem Begriff „Fleisch“ gemeint waren. Man kann die listigen Klosterbrüder schon verstehen. Verzichten „zu müssen“ fällt dem Menschen einfach schwer, sagt der Konsumforscher Ingo Balderjahn.

O-TON 01: (Balderjahn)

„Der Mensch verzichtet nicht gerne. Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften von 2002, das ist der Daniel Kahneman, der hat das sehr gut herausgearbeitet. Seine Theorie heißt „prospect Theory“, dass das Wesen des Menschen schon ist, dass der Mensch eine Verlustaversion hat. Das stellt sich in Studien sehr stark da. Also Verluste sollen vermieden werden, auf die Zukunft hingeschoben werden, Verluste schmerzen und führen zu emotionaler Betroffenheit.“

MUSIK Opposing forces M00537747 101 0.47

SPRECHERIN:

Abzuspecken und etwas Wohlstand aufzugeben, wird logischerweise als Einschränkung empfunden. Man stellt sein Konsumverhalten deshalb auch nicht ständig in Frage. Schließlich trinken andere Leute ebenfalls Alkohol, obwohl er als ungesund gilt, oder machen Kreuzfahrten, obwohl man sie aus Umweltgründen vielleicht besser sein lassen sollte. So tickt der Mensch. Er vergleicht und hat insgeheim Angst, meint Ingo Balderjahn. Angst, etwas her- oder aufgeben zu müssen. Zu kurz zu kommen, drauf zu zahlen.

O-TON 02: (Balderjahn)

„Man möchte auf Deubel-komm-heraus den Wohlstand und den jetzigen Status, oftmals sind ja auch andere Dinge damit verbunden, Macht und Ansehen. Oder das Schlimmste ist ja, was Menschen sich vorstellen können, sozial abzusteigen.

O-TON 02: (Balderjahn)

Sie müssen, was weiß ich, ihren Ferrari da vor der Tür wieder verkaufen oder so was, das geht ganz emotional an die Substanz.“

SPRECHERIN:

Auch wenn es „nur“ um materielle Dinge geht. Aber was heißt „nur“? Für die mittelalterlichen Mönche waren die strengen Fastengebote oft eine weitere Zumutung im harten Kampf ums Überleben, wenn Ernten ausfielen oder Krieg herrschte. Die Angst vor dem leeren Teller, die Angst vor dem Nichts hat schlicht biologische Ursachen. Nur so lässt sich der fast schon reflexhafte Widerstand erklären, etwa wenn einem von der Politik „jetzt auch noch“ die freie Fahrt auf Autobahnen genommen werden soll. Bloß nicht darben, bloß nicht verzichten müssen. Der Kampf gegen aufgezwungene Askese geht bereits mit der Geburt los, sagt die Psychoanalytikerin Angela (Anschela) Mauss-Hanke:

MUSIK Unfolding feelings Z9356382 032 0.32

O-TON 03: (Mauss-Hanke)

„Im Mutterleib geht ja alles von selber. Es gibt auch noch keine Bedürfnisse nach irgendetwas, weil das Atmen, das Essen ist einfach ein Ineinander, was von selber funktioniert. So, und dann flutschen wir da durch und kommen auf die Welt. Und warum finden wir es normal, dass jedes Baby schreit, wenn es auf die Welt kommt? Weil: es ist zum Schreien. Nix ist mehr von selber.

MUSIK Frames of motion Z93582 002 0.37

O-TON 03: (Mauss-Hanke)

Ne, es muss plötzlich aktiv atmen. Das Essen ist nicht immer von selber da, und von Anfang an ist eigentlich das Leben eine Übung im Verzicht darauf, dass Bedürfnisse sofort und unmittelbar befriedigt werden. Und das ist ein ganz langwieriger Lernprozess.“

SPRECHERIN:

Erwachsen zu werden, bedeutet aus psychoanalytischer Sicht: das innere Lustprinzip, das alle Wünsche erfüllt haben will, und zwar flott, mit dem äußeren Realitätsprinzip in Einklang zu bringen. Denn die totale Bedürfnisbefriedigung ist auf Erden leider unmöglich. Man kann selbstverständlich trotzdem Größenfantasien und Anspruchsdenken pflegen - nach dem Motto: „Es muss für mich Kaffee aus dem Vollautomaten sein. Sonst ist die Laune im Eimer.“ Aber wir kommen als mehr oder weniger soziale Wesen nicht umhin, laufend ureigene Triebe, Wünsche und Ziele aufzuschieben, umzulenken oder zu ignorieren. Sonst gäbe es nur noch Hauen und Stechen und das Wehklagen wäre groß. Je nach Erziehung, Persönlichkeit und Einflüssen gelingt die notwendige Selbstregulation mal besser, mal schlechter.

MUSIK Unfolding feelings Z9356382 032 0.18

O-TON 04: (Mauss-Hanke)

„Gehen wir noch mal ganz zurück. Das Baby hat Hunger und schreit, das weiß noch nicht, ich werde nicht sterben, wenn ich jetzt eine Minute warte oder 5 Minuten. Das muss es wirklich durch Erfahrung lernen und je befriedigender oder je unproblematischer, unkomplizierter die Erfahrungen sind, desto leichter lässt sich das auch lernen. Je mehr ich mich darauf verlassen kann, naja, ich muss ein bisschen Geduld haben. Und dann kommt das schon. Dann kann ich auch besser Geduld haben. Wenn es aber unsicher ist, wenn ich nicht weiß: oh, kriege ich jetzt was, kriege ich nix. Wie lange muss ich warten? In so einer unsicheren Bindung, dann wird es auch schwer zu verzichten.“ (oben)

MUSIK Sunnylands Z8034859 109 0.33

SPRECHERIN:

Der amerikanische Psychologe Walter Mischel (Betonung auf der zweiten Silbe) führte von 1968 bis 74 an der Stanford University ein Experiment durch, das unter dem Namen Marshmallow-Test berühmt und seither vielfach (auch mit Tieren) wiederholt wurde. Vierjährige Kinder wurden damals vor die Wahl gestellt: sie könnten sofort ein Marshmallow essen. Wenn sie es jedoch schafften, eine Weile zu warten, bekämen sie ein weiteres süßes Schaumstück dazu.

O-TON 05: The Marshmallow Test (youtube.com) bei 0:26

Kurz frei, dann drunter:

MUSIK Sunnylands Z8034859 109 0.44

SPRECHERIN:

Videoaufnahmen, die auch im Internet zu finden sind, zeigen, wie die Jungen und Mädchen mit sich ringen und zum Teil den Kampf um ihre Selbstbeherrschung verlieren. Über Jahre hinweg überprüfte Walter Mischel, wie sich die Kinder, die Standhaften und die Verführbaren, jeweils kognitiv und sozial weiterentwickelten. Sein Ergebnis: Kinder, die warten konnten beziehungsweise darauf vertrauten, dass sie die versprochene Belohnung erhalten werden, zeigten später auch beim Lernen oder in anderen Stresssituation mehr Frustrationstoleranz als die, die fast schon reflexhaft nach dem Marshmallow griffen. Das wirkt einleuchtend. Doch Wünsche aufzuschieben ist letztlich leichter als sie komplett aufzugeben. Was zum Beispiel beim Thema Umweltschutz eigentlich viel öfter angezeigt wäre, meint der Konsumforscher Ingo Balderjahn. Etwa ein konsequentes Nein zum neuesten Elektronikteil. Denn:

O-TON 06: (Balderjahn)

„Ob ich mir jetzt nun ein Smartphone kaufe oder in einer Woche, ist dem Klima höchstwahrscheinlich egal.“

SPRECHERIN:

Aber wirklich ganz darauf verzichten ohne irgendeine Belohnung? Schwierig. Religionen vertrösten ihre Gläubigen ja gern auf ein Paradies im Jenseits, in das sie eintreten werden, wenn sie sich an alle Regeln halten. Aber nehmen wir einmal an, jemand entscheidet sich, aus Umweltgründen auf den Flug nach Thailand oder die Autofahrt in die Provence zu verzichten, und reist stattdessen mit der Bahn ans andere Ende Deutschlands. In überfüllten, verspäteten Zügen unterwegs zu sein, ist kein Vergnügen. Wie sieht hier – bitte schön - die Gratifikation aus?

O-TON 07: (Balderjahn)

„Das Gute, was man tun kann, um den Klimawandel zu verhindern, kommt ja auch später, in zehn, 20, 30 Jahren.“

SPRECHERIN:

Aber wer weiß das schon so genau! Prognosen sind keine Versprechen.

MUSIK Jolly Stroll Z8036179 120 0.44

SPRECHERIN:

Der Begriff des Verzichts stammt aus der mittelalterlichen Rechtssprache. Wer einen Rechtsanspruch aufgab, übte Verzicht oder Verzeihung, wie man noch bis ins 18. Jahrhundert gleichbedeutend sagen konnte. Man entsagte oder verzichtete, um eine Schuld auszugleichen und die gegnerische Partei zufrieden zu stellen. Deshalb liegt bis heute das „Um zu“ so nahe. Man verzichtet auf Kohlehydrate oder Fett, um abzunehmen. Man spart Geld, um den Kindern etwas schenken zu können. Man verzichtet auf einen Seitensprung, um die Ehe nicht zu gefährden. Wenn sich nun aber kein einleuchtender Grund fürs Knapsen, keine „gefühlte“ Not-Wendigkeit finden lässt? Dann kauft man sich eben zweimal im Jahr neue Klamotten oder gönnt sich den One-Night-Stand. Verzicht braucht schon ein gewisses Maß an innerer Zustimmung, bestätigt die Psychologin Angela Mauss-Hanke. Sonst funktioniert der Deal nicht gut:

O-TON 08: (Mauss-Hanke)

„Wenn ich von außen gesagt bekomme: du, das wäre für uns alle besser, wenn du darauf verzichtet. Und ich denke darüber nach, also meine Vernunft, vielleicht auch sogar mein Einfühlungsvermögen sieht das dann ein, dass das besser wäre. Und ich bin dann vielleicht sogar ein sozialer Mensch, der es auch nicht unwichtig findet, dass es den anderen auch gut geht, dann fällt mir der Verzicht natürlich viel leichter, als wenn das Wichtigste ist, dass ich meine Wünsche, meine Triebe befriedigt kriege.“

MUSIK Frames of motion 2 Z9356382 002 0.42

O-TON 09: (Balderjahn)

„Was braucht es für einen Verzicht? Verantwortung, Verantwortung übernehmen. Der Mensch muss sagen: okay, ich bin auch daran beteiligt, dass sich die Erde aufheizt, also nur mal gesagt: mit jedem Euro, den wir ausgeben, circa 150 Gramm Treibhausgase, also wir sind alle daran beteiligt. Und wenn der Einzelne für sich auch die Verantwortung sieht, ich bin verantwortlich dafür, dann kann sich daraus schon eine Bereitschaft ergeben, etwas auch zum Klimaschutz zu tun. Nur, in einer Studie der Europäischen Union, Eurobarometer heißt das, da sagen zwei Drittel der Europäer, sie fühlen sich für den Klimaschutz nicht verantwortlich, und diese zwei Drittel fallen mit dieser Haltung erstmal komplett raus. Die machen nichts.“

SPRECHERIN:

Niemand hat gern ein schlechtes Gewissen. Auch wenn Menschen mittlerweile so etwas wie Flugscham empfinden können, geflogen wird trotzdem in gigantischem Ausmaß. Ein weiterer Feind des Verzichts ist nämlich die Bequemlichkeit. Verzicht zu üben, bedeutet, eine Komfortzone zu verlassen. Wer sein Gewicht reduzieren will, muss die Ernährung umstellen und auf die gewohnte abendliche Wurstplatte verzichten. Man muss sich aufraffen und dann vor allem dranbleiben. Der Wille ist gefragt. Und der Wille braucht gute Argumente. Sonst fällt er dem inneren Schweinehund zum Opfer. Selbstoptimierung kann ein starkes Motiv sein: ach ja, besser aussehen, gesünder sein! Dafür darbt man noch relativ gern.

O-TON 10: (Mauss-Hanke)

„Aber der Verzicht, sagen wir mal, auf Flugreisen eben zu verzichten, weil mir der Klimawandel bewusst ist, dass es eine viel schwierigere Forderung und das braucht schon wirklich viel Vernunft, viel abstraktes Einfühlungsvermögen in die nächste Generation. Und vor allen Dingen auch die Erkenntnis oder die Meinung kann man ja auch sagen, dass das was nutzen kann, wenn ich als Einzelner da etwas anders mache. Und das ist auch verständlich. Wenn ich in eine Millionenstadt komme, dann frage ich mich auch: warum soll ich hier irgendwie den Müll trennen und das dann trotzdem durchzuhalten, das braucht wirklich viel Vernunft, auch gedankliche Geduld vielleicht. Und da muss man dann eben sehen, wie kann man das für sich selber aufrechnen, dass man dann verzichtet.“

SPRECHERIN:

Die Regale in unseren Supermärkten sind voll. Lieferdienste bringen Waren bis an die Haustür. Vom USB-Stick bis zum Plantschbecken, von der Pizza bis zum Modeschmuck – fast alles kann man heute ruckzuck im Internet bestellen.

MUSIK All in one app Z8033488 114 1.15

SPRECHERIN

Die Versuchungen sind groß. Wir leben in einer Überflussgesellschaft. Immer noch. Außer es gibt Probleme mit den Lieferketten, und das Klopapier wird rationiert. Dann bricht Panik aus. Normalität bedeutet hierzulande, dass alles immer verfügbar ist, jetzt auch in Bio-Qualität.

O-TON 11: (Balderjahn)

„Es ist natürlich das, dass insbesondere von der Wirtschaft, von der Werbewirtschaft, vom Marketing Anreize gesetzt werden für bestimmte konsumintensive Verhaltensweisen. Und da sich kein Mensch von der Werbung wirklich entziehen kann, Werbung hat immer Wirkung. Wir brauchen nur einmal eine Marke zu sehen, und schon kriegen wir die aus dem Gehirn nicht mehr gelöscht. Also, da sind so Antreiber, Konsumantreiber. Und wir werden ja auch groß in einer Gesellschaft und leben in einer Gesellschaft, jetzt sage ich mal hier in Deutschland, die sehr, sehr konsumorientiert ist.“

SPRECHERIN:

Anregende Reize aus unzähligen Kanälen triggern den suchtmäßigen Konsum. Der Staat versucht durchaus, mit Kampagnen, Gebühren und Werbeverboten gegenzusteuern. Im Grunde aber bleibt es jedem und jeder Einzelnen überlassen, dem kapitalistischen Prinzip des „Höher, weiter, schneller, mehr!“ die Stirn bieten. Aber nur 15 Prozent der Deutschen schaffen es, konsequent weniger Geld für ihren Konsum auszugeben, als sie könnten, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Ingo Balderjahn. Von anderen Ländern gar nicht zu reden.

O-TON 12: (Balderjahn)

„Wir konsumieren tatsächlich viel zu viel. Wir ruinieren die Erde, da gibt es Zahlen. Wir verbrauchen die Fläche von 1,7 Erden, damit wir unsere Konsumbedürfnisse befriedigen können, aber diese Komma sieben, diese drei Viertel, die haben wir nicht. Das heißt, wir plündern, und wir heizen auch mit diesem maßlosen Konsum das Klima auf. Und das ist das Problem, wovor wir stehen.“

SPRECHERIN:

Die große Frage lautet: Wie lässt sich der Mensch zum Verzichten und Sparen motivieren? Wie lässt sich der maßlose Konsum reduzieren? Darauf läuft es ja hinaus. Trotz neuer energieeffizienter Technologien und nachhaltigerer Produktionsweisen. Was zu viel ist, ist zu viel. Die apokalyptischen Bilder aus aller Welt sprechen eine deutliche Sprache:

MUSIK Geiger involved Z8024281 104 0.42

SPRECHERIN

Sturzfluten, Bergrutsche, schmelzende Gletscher, Wirbelstürme, brennende Wälder...

O-TON 13: (Greta Thunberg W0507488 101)

„We should panic!... out of our comfort zones!“

OT 13 kurz frei, dann drüber:

SPRECHERIN:

„We should panic!“ und „I want you to panic“, sagte die Fridays-for-Future-Aktivistin Greta Thunberg immer wieder in ihren Reden und erntete dafür Kritik. Panikmache bringt nämlich gar nichts, um die Menschen zum Umdenken zu bewegen. Im Gegenteil.

O-TON 14: (Balderjahn)

„Man sollte nie, und das machen viele Umweltaktivisten falsch, nie den Horror an die Wand malen. Horror mögen Menschen nicht und sortieren das gleich aus. Damit setzen sie sich nicht auseinander. Deswegen funktionieren ja auch diese Horrorbilder auf diesen Zigarettenpackungen nicht mehr.“

SPRECHERIN:

Man gewöhnt sich an den Schrecken. Oder steckt den Kopf in den Sand. Wird schon nicht so schlimm sein. Auch wenn das Meer so warm ist wie noch nie und die Korallenriffe sterben. Hauptsache Urlaub. Die moderne Lebensweise erschöpft auch die emotionalen Ressourcen. Jedem und jeder scheint hier alles immer offenzustehen: die persönliche Selbstverwirklichung, der Neuanfang mit 80, dieses haben, jenes machen oder werden zu können. Das kann stressen.

MUSIK Sunnylands Quintett Z8034859 110 0.38

SPRECHERIN:

Die Entwicklung liegt nahe: Zum Wellnesskurzurlaub gehört heute meist auch „digital detox“, der vorübergehende Verzicht auf digitale Medien und Endgeräte. Individuelle kleine Verzichtsübungen sind „in“, kleine Rettungs- oder Heilungsversuche, private Challenges, deren Verlauf gern in sozialen Netzwerken gepostet wird: Wie lange schaffe ich es, ohne Zucker, Weizen, Ablenkung, weiß nicht was, zu leben? Und ganz wichtig: wie fühle ich mich dabei? Eigentlich gar nicht so schlecht. Überraschenderweise. Studien, die Ingo Balderjahn an der Uni Potsdam durchgeführt hat, brachten ähnliche Ergebnisse:

O-TON 15: (Balderjahn)

„Wir haben Personen verglichen, die freiwillig verzichten und einen einfacheren Konsum und Lebensstil haben, mit anderen, die voll drauflos konsumieren. Und wir stellen fest: die, die freiwillig verzichten, die empfinden das nicht als Opfer oder als Verlust, sondern eher als Zugewinn an Unabhängigkeit und an Selbstbestimmung, Autonomie, also in der Tendenz sogar stellt sich heraus, dass Menschen, die einfacher leben, nicht alles auf den Kopf hauen, glücklicher sind als die anderen, die in diesem Konsumturbo stecken.“

SPRECHERIN:

Das Gefühl von Selbstdisziplin und Selbstwirksamkeit, nicht so getrieben und abhängig zu sein, tut offenbar gut. 70 Prozent der Deutschen wären – laut einer Studie des Bonner Briq-Instituts - rein theoretisch sogar dazu bereit, grundsätzlich kürzer zu treten, ihre Altgeräte zum Recyceln zu bringen, Kleidung second hand zu kaufen, öfters das Fahrrad zu benutzen und so weiter. Doch rechnen sie paradoxerweise nicht damit, dass sich ihre Mitmenschen auch dazu bewegen ließen. Also wagen sie sich nicht aus der Deckung. Wenn aber alle mitmachen würden, dann wäre etwa der Verzicht auf Fleisch oder Flüge „normal“. Gruppendruck und soziale Kontrolle spielen eine Riesenrolle, bestätigt die Psychoanalytikerin Angela Mauss-Hanke.

O-TON 16: (Mauss-Hanke)

„In großen Gruppen ist das ja häufig so, in Sekten zum Beispiel, es gibt ne Ideologie: wir sollten das und das tun oder was weiß ich, vegan leben. Und dann hilft es natürlich sehr, wenn man dann eine Ideologie hat, an die sich alle halten. Das heißt, da gibt der Einzelne seinen Moralkodex ab an das, was in der Gruppe sozusagen „in“ ist, und hält sich dann daran.

MUSIK All in one app Z8033488 114 0.55

O-TON 16: (Mauss-Hanke)

Ne, da muss ich nicht mehr überlegen, finde ich das richtig oder falsch, sondern ich tue das einfach und der Gewinn, die Zustimmung durch die Gruppe, das ist schon nicht zu unterschätzen.“

SPRECHERIN:

Alkoholfreie Getränke liegen heute voll im Trend. Aber autoritär von oben lässt sich ein generelles Bier- und Wein-Trink-Verbot in unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft kaum durchsetzen. Anders gesagt: der Zeitgeist müsste sich ändern, weg vom materiellen Denken hin zu einer besseren Moral und mehr sozialem Denken. Ohne Zwang. Der Konsumforscher Ingo Balderjahn hat 2024 ein Sachbuch mit dem Titel „Lust auf Verzicht“ veröffentlicht, um die wissenschaftlich belegten positiven Seiten der freiwilligen Beschränkung publik zu machen. Nach dem Motto: „Weniger ist tatsächlich mehr“.

O-TON 17: (Balderjahn)

„Da gibt es Parallelstudien, die von anderen Kolleginnen und Kollegen betrieben werden, die zeigen, dass je mehr Geld jemand hat, desto relativ weniger spendet er oder sie für gute Zwecke. Daraus ist es auch erkennbar: die Leute, die relativ wenig haben, spenden in Relation dazu zu dem, was sie haben, relativ viel und sind auch viel leichter bereit, etwas abzugeben mit anderen zu teilen.“

MUSIK Jolly stroll Z8036179 120 1.14

SPRECHERIN:

Genug zum Leben zu haben, ist wichtig. Aber die Frage: brauche ich das wirklich? verneinen zu können, schafft offenbar Freiräume und reduziert Ohnmachtsgefühle. Warum nicht auch mal einen Probelauf starten, um einen klitzekleinen Beitrag zur Rettung der Welt zu leisten? Wenn irgendein Verzicht dann doch ein bisschen hart erscheint, kann man sich ja zum Trost die Bedingungen der menschlichen Existenz vor Augen halten. Verzicht zu üben, gehört nicht ohne Grund zum Standardprogramm aller Religionen. Wer sich bewusst auf wesentlich Erscheinendes konzentriert, lernt nämlich Abschied zu nehmen. Vielleicht auch von den Illusionen, die unsere Gesellschaft so gerne pflegt:

O-TON 18: (Mauss-Hanke)

„Das Leben ist immer ein Verzicht. Wir gehen auf den Tod zu, und wir müssen diese begrenzte Zeit irgendwie füllen. Wir werden niemals all das, was wir gerne tun würden, all das, was wir gerne hätten, erreichen, niemals. Wir kommen aus dem Verzichten nicht raus.“


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